2. Jahrgang 2002/Heft1

Themenschwerpunkt “Postkoloniale Kultur-Geschichten”
Martina Kaller-Dietrich (Hrsg.)

Zu bestellen im StudienVerlag

Beiträge

  • Christian Flatz: Was ist Kultur? Eine politologische Befragung
  • Doris Byer: Freiheit und Hybridität. Transkulturelle Lebensentwürfe postkolonialer Einwanderer in Essaouira (Marokko)
  • Ursula Prutsch: Machtlegitimierung durch kulturelle Inszenierung am Beispiel Brasilien - interamerikanische Perspektiven. Getúlio Vargas, Estado Novo (1937-1945) und die Rolle der USA in Lateinamerika unter Franklin D. Roosevelt
  • Gerhard Drekonja-Kornat: Kulturverrat. Zur Travestie der Lebensformen in der Dritten Welt


Forum

  • Guillermo Bonfil Batalla: Für eine Zukunft in Vielfalt
  • Esteban Krotz: Guillermo Bonfil Batalla (1931-1991), mexikanischer Anthropologe
  • Vicent Guzmán Martínez: Verschiedene Modernen: das Recht, sich die Zukunft zu gestalten
  • Wolfgang Dietrich: Bonfils profunde Welten und die unvollendbaren Modernen
  • Emmánuel Lizcano Fernández: Das Abendland entkolonialisieren
  • Teresa Frisch-Soto: Kommentar zu Bonfil Batallas Gedanken zur Globalisierung
  • Wolfgang Schmale: Zur Bildung neuer kultureller Zusammenhänge mittels moderner Informationstechnologien

Neu gelesen

  • David Mayer: Auf der Suche nach der verlorenen Universalität: Kolonialgeschichte - Revolutionsgeschichte - Weltgeschichte. Manfred Kossok, Ausgewählte Schriften

Rezensionen

  • Brigitte Kossek: Catherine Hall (Hg.), Cultures of Empire. Colonizers in Britain and the Empire in the 19th and 20th Centuries
  • Gerhard Drekonja-Kornat: Harald Barrios, Die Außenpolitik junger Demokraten in Südamerika. Argentinien, Brasilien, Chile und Uruguay
  • Martina Kaller-Dietrich: Ilse Schütz-Buenaventura, Globalismus contra Existentia. Das Recht des ursprünglich Realen vor dem Machtanspruch der Bewusstseinsphilosophie: Die hispanoamerikanische Daseinssemantik
  • Alessandro Barberi: Claus Pias/Joseph Vogl/Lorenz Engell/Oliver Fahle/Britta Neitzel (Hg.), Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard Ronald G. Asch:
  • Thomas Winkelbauer, Fürst und Fürstendiener. Gundaker von Liechtenstein, ein österreichischer Aristokrat des konfessionellen Zeitalters Peter Becker: Andrea Griesebner, Konkurrierende Wahrheiten. Malefizprozesse vor dem Landgericht Perchtoldsdorf im 18. Jahrhundert


Aus dem Editorial:

Postkoloniale Räume, Erfahrungen und Kulturen markierten lange Zeit das wilde Außen der Geschichte. In Deutschland formierten sich seit den 1980er Jahren Arbeitskreise zur Außereuropäischen Geschichte, die FachhistorikerInnen und historisch arbeitende KollegInnen der Afrikanistik, (Latein-)Amerikanistik, Orientalistik, der Islamwissenschaften, etc ansprachen. Sie beabsichtigten, die regionalen Horizonte der Geschichtswissenschaften zu erweitern und eine umfassendere universitäre Lehre und entsprechende Schulausbildung anzubieten. Zwanzig Jahre später müssen wir uns eingestehen, dass Begriff und Inhalte der Außereuropäischen Geschichte die eurozentrische Ordnung legitimieren. Und sie verfestigen die Hierarchien und Repräsentationen dieser Ordnung. Dieser Befund soll HistorikerInnen nicht abschrecken. Im Gegenteil, Globalisierung will verstanden werden.

Wie wurden Kulturen mit der Universalkultur und deren Geschichte mit der Universalgeschichte asymmetrisch in Beziehung gesetzt? Die angeblich universale Ökonomie hat weltweit Verwüstungen angerichtet. Selbst Kulturpuristen müssen sich eingestehen, das wilde Außen ist verschwunden. Doch hat es je existiert? Ist das ins Gerede gekommene Außen nicht grundsätzlich Projektionsfläche für die politische, ökonomische, soziale und damit kulturelle Einhegung „des Anderen“? Ein Begriff wie „außereuropäisch“ hört sich nach beliebiger Ein- und Ausgrenzung an. Hilft uns der Postkolonialismusansatz aus dieser unrühmlichen Gasse?

Die Hoffnung ist begründet, denn postkoloniale Theorie lässt sich auf keine wie immer definierte „Universal-“ oder gar „Leitkultur“ festlegen. Dies immunisiert sie erfreulicherweise gegen fundamentalistische Beschwörungen. Was aber bedeutet postkolonial? Dieses Adjektiv kann sich auf den Status eines Landes beziehen, das seine Unabhängigkeit von der Metropole erreicht hat. In diesem Sinne bezeichnet das Adjektive postkolonial die ökonomischen, politischen, sozialen und kulturellen Merkmale, welche ein entkolonisiertes Land prägen, sowie die Art und Weise, in der das koloniale Erbe verhandelt wird. In ihr postkoloniales Stadium sind aber auch die ehemaligen Kolonialmächte eingetreten. Die ökonomische und kulturelle Ausbeutung ihre ehemaligen profitablen Enklaven aber muss mitgedacht werden. Postkolonialismus bezeichnet ferner die gegenwärtigen Formen der Unterdrückung, die den direkten Kolonialismus abgelöst haben, und prangert sie an. Nationen sowie transnational operierende Unternehmen verfestigen den Mythos von der Unterentwicklung, vom west and the rest . Es gelingt immer noch, den rest zu entwerten und zu verdrängen. Die Reduktion von Kultur auf Technologie verursacht kulturelle Homogenisierung und erfasst immer größere Gebiete dieser Welt.

Die postkolonialen Kultur-Geschichten in diesem Heft reflektieren die Sicht österreichischer WissenschafterInnen. Christian Flatz befragt den Begriff Kultur politologisch. Er verwirft Samuel Huntingtons banale Parole vom „Kampf der Kulturen“ und ihre Kampfrhetorik. Flatz zeigt, dass eine „demokratische Kultur“ Geschichten immer neu erzählen und Kulturen immer wieder verhandeln muss - gerade in dem Augenblick, da man, wie am 11. September 2001, den fürchterlichsten Preis zahlt.

In einer fremden Kultur zu leben, bedeutet in den Lebensgeschichten europäischer und US-amerikanischer KultureskapistInnen, die Doris Byer im Kontext der marokkanischen Geschichte nach 1960 betrachtet, zunächst, woanders anders zu sein. Hybride Lebensformen entstanden, wo die westliche Dominanzkultur unter Protest verlassen wurde. Die individuellen Erfahrungen in der Fremde verschmelzen zu Lebensentwürfen, in denen sich das Ortsparadigma von Kultur auflöst.

Ursula Prutsch analysiert Kulturpolitik als massenmedial inszenierte Abwehr und Aneignung moderner Symbolik im Estado Novo Brasiliens. Die Kulturpolitik Brasiliens im „Neuen Staat“ unter Getúlio Vargas (1937-1945) diente der Harmonisierung gesellschaftlicher Unterschiede im Zeichen eines postkolonialen Nationsbildungsprozesses. Die USA setzten mit ihrer ökonomischen und politischen Unterstützung der öffentlichen Propaganda in Brasilien die imperialistischen Zeichen der dominanten Kultur.

Gerhard Drekonja-Kornat erinnert an abtrünnige Kolonisten und Fernreisende seit 1500. Sie „verrieten“ Nationen, Ideologien, Geheimnisse und Freundschaften. Ihr Eintauchen und Aufgehen in „anderen“ Kulturen galt im Urteil der Daheimgebliebenen als unverzeihliche Tat. Was aber meint Kulturverrat in postkolonialen Zeiten, da die Welt im kulturellen Sinne als grundsätzlich hybrid dargestellt wird? - Eine Frage, die offen bleibt.

Auch die Rubrik „Forum“ steht im Zeichen der Postkolonialismusdebatte. Ein 1990 verfasster Text des 1991 verstorbenen mexikanischen Sozialanthropologen Guillermo Bonfil Batalla wird von fünf europäischen WissenschaftlerInnen kommentiert. Bonfil glaubt „an den Wert der vielen verschiedenen Gesichter.“ Das bekennt er in seiner Analyse der Modernisierung, die in ihrem Universalisierungsanspruch einfältig bleibt. Als Utopie erträumt sie die „Ausblendung der Anderen“, zu erkennen an der dominanten (Universal-)Geschichte, die all die vielen Kulturen und deren Geschichte beharrlich ignoriert. Bonfil benennt die materiellen und die kulturellen Asymmetrien, die der europäische Zivilisationsprozess in fünfhundert Jahren Kolonisation verursacht hat.

Der im 20. Jahrhundert marxistisch geprägte Begriff des Kolonialismus, der einen Meilenstein im Diskurs um Widerstand - besonders in den ehemaligen europäischen Kolonien der südlichen Hemisphäre - bildete, wird von Bonfil um den kulturellen Aspekt erweitert. Wie Esteban Krotz in seinem einleitenden biographischen Abriss feststellt, schreibt Bonfil gegen den Verlust kultureller Vielfalt an, erinnert aber gleichzeitig an Erfahrungen der Aneignung, die das Umschreiben der dominanten Kultur durch die von ihr Unterworfenen zulassen.

Als Bonfils Text 1991 erstmals in spanischer Sprache erschien, drang die Diskussion um Postkolonialismus, in deren Kontext er steht, leise in eine gerade erst an Poststrukturalismus und Postmoderne gewöhnte Öffentlichkeit. Bonfil bemüht keinen dieser mittlerweile vertrauten Begriffe. Seine sehr konkreten Forderungen um Vielfalt im Diskurs über Kulturen und ihre Geschichte erinnern an Antonio Gramsci, Frantz Fanon und den vielleicht weniger bekannten Peruaner José Carlos Mariátegui. Und sie weisen in die Richtung der Thesen von Homi K. Bhabha, Paul Gilroy, Stuart Hall, Edward Said und Gayatri Chakravotry Spivak. Diese renommierten Exponenten der Postkolonialismusdebatte stellen in unterschiedlicher Weise die Frage nach der Repräsentativität von Diskursen: Sühne oder Groll, empowerment oder opportunistische Kontrolle? Glauben wir den ehemaligen Kolonialisten oder den einst Kolonisierten? Wie lassen sich die verschiedenen historischen Kolonisationserfahrungen in ihren politischen, ökonomischen und kulturellen Konsequenzen in der gegenwärtigen postkolonialen Erfahrung denken? Die KommentatorInnen der Thesen Bonfils kommen ganz im Sinne des Titels des ihnen vorliegenden Textes „Für eine Zukunft in Vielfalt“ zu heterogenen Schlüssen: die Möglichkeit einer friedlichen Koexistenz der Kulturen (Vicent Guzmán Martínez), die grundsätzliche Unvollendbarkeit der Moderne (Wolfgang Dietrich), die Unterschiedlichkeit der Perspektiven bei der Interpretation des Abendlandes (Emmánuel Lizcano Fernández), die Konsequenzen von Globalisierung (Teresa Frisch-Soto) und die Bildung neuer kultureller Zusammenhänge mittels moderner Informationstechnologien (Wolfgang Schmale).

David Mayer hat das Gesamtwerk des 1993 verstorbenen Leipziger Historikers Manfred Kossok „neu gelesen“. Gemeinsam mit seinem Lehrer Walter Markov erarbeitete Kossok in Leipzig international viel beachtete universalgeschichtliche Interpretationen, die an Karl Lamprecht anknüpften. Manfred Kossok befasste sich mit der vergleichenden Kolonialgeschichte besonders Lateinamerikas sowie mit der vergleichenden Revolutionsgeschichte und der Methodologie der Geschichtswissenschaft. Gesellschaftliche Umbruchsphasen, in denen die Menschen um radikale Alternativen für die Zukunft ringen, gibt es immer wieder. Historiographische Traditionen, die sich damit befassen, haben nicht ausgedient, resümiert Mayer.

Martina Kaller-Dietrich


Abstracts

Christian Flatz: What is culture? An inquiry

The author examines the political dimensions of the German term “culture”. He utilizes the symbolic sphere to define culture as both a process and a product of the social search for meaning. Culture functions as a social bond in every society. After exploring the antagonistic dimensions of totalistic and difference-centered views in modern politics the author suggests the concept of “democratic culture” to confront the everlasting dilemma of universalism and particularism in politics. The term “democratic culture” reflects the unresolvable tensions in politics and therefore emphasizes the opportunities for political action.

Doris Byer: Freedom and Hybridity. Transcultural Life Strategies of European Immigrants in Essaouira (Morocco)

A specific syncretism of Maghribi, African, and European cultural heritage has distinguished Essaouira - a Moroccan seaport on the Atlantic coast - since its foundation in 1766. It has proved the most important resource of the town until today. This article first presents summary observations on postcolonial migration from the United States and Europe to Essaouira during the period from1969 to 1985; these migration patterns reflect the cultural ruptures of late modern industrial societies. The article then discusses possibilities, but also limits of transcultural life strategies connected to the cultural movements of post-war Europe and to socio-cultural change in Morocco on the basis of intensive interviews. Thus, we can perceive new processes of identity formation which are not at all explainable with the categories of conventional theories of development.

Ursula Prutsch: Legitimating Power through Cultural Productions - Interamerican Perspectives. The Example of the Getúlio Vargas-Regime (Estado Novo 1937-1945) in Brazil and the Role of the USA in Latin America under Franklin D. Roosevelt

Political and economic interests are often linked to politico-cultural strategies that aim to increase their efficiency. The cultural policy of Brazil since the 1930s became increasingly important as it served modernization, the building of the nation and the consolidation of power both within and outside the country. Brazil followed non-Brazilian but European - especially fascist - models in the organization of propaganda, institutions and political productions, i.e. the rites, symbols and myths that accompanied the nation-building process. From the late thirties the USA, with a view to their economic and political interests, placed great importance on the extension of their sphere of influence in Latin America, especially through the Office of the Coordinator of Interamerican Affairs, established by Nelson Rockefeller. They tried to influence Brazil by means of politico-cultural strategies, especially of cinema, radio, press, cultural and intellectual exchange programs. The article aims to show the reception, instrumentalization and assimilation of politico-cultural elements from outside the country with the method of intercultural transfer.

Gerhard Drekonja-Kornat: Cultural treason

The author reminds his readers of the many colonists and travelers who since the early days of colonialism have defected from their culture of origin. They betrayed their nations, ideologies, secrets and friendships. In the judgment of those back home their adaptation to and immersion in a “foreign” culture was beyond redemption. But what does cultural treason mean in the age of postcolonialism when cultural hybridity is considered to characterize the world? This remains an open question.